Paritätischer Armutsbericht: 14,2 Millionen Menschen von Armut betroffen

PM des Paritätischen: „Die Armut in Deutschland verharrt auf hohem Niveau, so das Ergebnis des neuen Paritätischen Armutsberichts: 16,8 Prozent der Bevölkerung leben nach den jüngsten Zahlen in Armut, wobei sich im Vergleich der Bundesländer große regionale Unterschiede zeigen.

Fast zwei Drittel der erwachsenen Armen gehen entweder einer Arbeit nach oder sind in Rente oder Pension, ein Fünftel der Armen sind Kinder. Der Paritätische sieht wesentliche armutspolitische Stellschrauben daher insbesondere in besseren Erwerbseinkommen, besseren Alterseinkünften und einer Reform des Kinderlastenausgleichs.

„Die Befunde sind durchwachsen, aber einen Grund zur Entwarnung gibt es nicht“, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. So scheine der Trend stetig wachsender Armut auf Bundesebene zwar auf den ersten Blick gestoppt, aber noch lange nicht gedreht. Nach dem Armutsbericht müssen 14,2 Millionen Menschen in diesem reichen Land zu den Armen gezählt werden. 2022 waren damit fast eine Million Menschen mehr von Armut betroffen als vor Pandemie, Energie- und Preiskrise im Jahr 2019 und 2,7 Millionen mehr als 2006.

Insbesondere Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Menschen mit schlechten Bildungsabschlüssen oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind von Armut betroffen. Auf einen neuen traurigen Rekordwert ist nach der Studie zudem die Kinderarmut gestiegen: Mehr als jedes fünfte Kind ist mittlerweile von Armut betroffen (21,8 Prozent). Unter Alleinerziehenden lag die Armutsquote bei 43,2 Prozent.

Europarat fordert von Deutschland: Menschenrechtsversprechen einlösen und den Zugang zu sozialen Rechten verbessern

Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, veröffentlichte letze Woche den Bericht über ihrem Besuch in Deutschland vom 27. November bis 1. Dezember 2023 mit Empfehlungen zu den verfügbaren Strukturen und rechtlichen Rahmenbedingungen für den Schutz von Menschenrechten und zum Zugang zu sozialen Rechten, insbesondere dem Schutz vor Armut und dem Recht auf angemessenen Wohnraum.

Es seien „weitere Anstrengungen erforderlich, um gegen die wachsende Ungleichheit in Deutschland anzugehen, bestehende Hürden beim Zugang zu sozialen Rechten zu beseitigen und die negativen Langzeitfolgen von Armut auf die individuelle Gesundheit, Bildung und Beschäftigungsaussichten zu minimieren.“ – Quelle und mehr: www.coe.int

Siehe dazu das Deutsche Institut für Menschenrechte, Stefan Sell und Harald Thomé im aktuellen Newsletter:

„Der Bericht bringt die Menschenrechtslage meiner Meinung nach recht gut auf den Punkt. Bei der Verwirklichung sozialer Rechte muss sehr viel getan werden. Der derzeitige Kurs der Regierung und der Opposition sorgen dafür, dass sich Armut, Elend und Menschenrechtsverletzungen stetig verschärfen.

Studie: Armut ist Risiko für Demokratie – Indizien für Zunahme der Einkommensungleichheit in der Krise

“Die Einkommen in Deutschland sind heute sehr ungleich verteilt, wenn man die Entwicklung seit Ende der 1990er Jahre vergleicht. Zudem gibt es Indizien dafür, dass die Einkommensungleichheit während der Coronajahre erneut gestiegen ist und 2022 fast auf diesem Höchststand verharrte. Auch die Armutsquote liegt mit 16,7 Prozent 2022 spürbar höher als vor Beginn der Pandemie, gegenüber 2021 ist sie geringfügig gesunken.

Insbesondere dauerhafte Armut (mindestens fünf Jahre in Folge) hat die gesellschaftliche Teilhabe schon vor der jüngsten Teuerungswelle stark eingeschränkt: Dauerhaft Arme müssen etwa deutlich häufiger auf Güter des alltäglichen Lebens wie neue Kleidung oder Schuhe verzichten, sie können seltener angemessen heizen. Und sie machen sich zudem deutlich häufiger Sorgen um ihre Gesundheit und sind mit ihrem Leben unzufriedener.

Auch das Gefühl, anerkannt und wertgeschätzt zu werden und das Vertrauen in demokratische und staatliche Institutionen hängen stark mit dem Einkommen zusammen. Arme empfinden weitaus häufiger als Menschen mit mehr Geld, „dass andere auf mich herabsehen“, wobei das Problem unter Menschen in dauerhafter Armut noch weitaus ausgeprägter ist als bei temporärer Armut: Fast jeder Vierte unter den dauerhaft Armen sagt, von anderen geringgeschätzt zu werden.

Mit materiellen Einschränkungen und dem Gefühl geringer Anerkennung geht bei vielen Betroffenen eine erhebliche Distanz zu zentralen staatlichen und politischen Institutionen einher: Mehr als die Hälfte der Armen hat nur wenig Vertrauen in Parteien und Politikerinnen. Rund ein Drittel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße. Zu diesen Ergebnissen kommt der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. (…)

Um gegenzusteuern, heben sie [die Forschenden] mehrere Maßnahmen hervor:

Nationale Armutskonferenz (nak): Rund hundert Erwachsene und Kinder mit Armutserfahrung formulieren Forderungen an die Politik

Die Nationale Armurtskonferenz (nak) berichtet:

Auf dem 16. Treffen der Menschen mit Armutserfahrung in Berlin kamen mehr als 100 Beteiligte sowie Kinder und Jugendliche aus ganz Deutschland zusammen, um sich über ihre Situation auszutauschen, gesellschaftliche Probleme zu besprechen und ihre Forderungen auszuarbeiten. Ein Ergebnis des Treffens: Die Kinder und Jugendlichen formulierten einen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz.

„Viele Teilnehmende schilderten ihre Wahrnehmung, dass die aktuellen politischen Debatten völlig an der realen Lebenssituation und der täglich erlebten Not von in Armut lebenden Menschen vorbeigehen“, berichtet Renate Antonie Krause aus Kiel, die das Treffen mit vorbereitet hat. „Statt wirksame Hilfen umzusetzen, werden Menschen in Armut ständig diskreditiert.“ So sei es völlig unklar, welche der mit dem Bürgergeld und der Grundsicherung verbundenen großen Versprechen überhaupt umgesetzt werden. „Im Bundeshaushalt sind die Mittel rapide zusammengekürzt worden, mit denen die individuelle Förderung ermöglicht werden sollten. Und die Menschen in der Grundsicherung im Alter sind überhaupt aus dem Blick geraten“, kritisiert Krause.

Dorothea Starker aus Oldenburg berichtet aus dem Workshop Zugang zu Sozialleistungen, dass die Zugangsprobleme für die Bürgerinnen und Bürger zu Leistungen und Hilfen oft schwierig gestaltet seien.

Die Letzte macht das #LichtAus: Kampagne gegen die Sparpläne der Bundesregierung

“Der Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 2024 sieht einen Kahlschlag im sozialen Bereich vor. In den Bereichen, die die Finanzierung von Programmen und Diensten der Freien Wohlfahrtspflege betreffen, sind insgesamt Kürzungen in Höhe von 25 Prozent geplant.

Wir erheben gegen die Kürzungspläne unsere Stimme: sachlich, politisch, laut. Wir, das sind die 247.000 Beschäftigten, 277.000 Mitglieder und 70.000 Engagierten der AWO, die im Haupt- und Ehrenamt für Euch da sind. Wir wollen zeigen, was beim geplanten Haushalt auf dem Spiel steht. Unter dem Slogan „Die Letzte macht das Licht aus“ machen wir deutlich, dass mit der Sparpolitik der Bundesregierung buchstäblich das Licht ausgeht – und zwar in unseren sozialen Diensten und Einrichtungen. (…)

Am Mittwoch, den 08.11.23 lädt die AWO von 16:00-18:00 Uhr zur Kundgebung auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude (Platz der Republik) ein. Neben den AWO-Präsident*innen Michael Groß und Kathrin Sonnenholzner werden Vertreter*innen aller Spitzenverbände der Deutschen Wohlfahrtspflege sprechen. Gemeinsam mit Caritas, dem Deutschen Roten Kreuz, Diakonie, dem Paritätischen und ZWST fordern wir laut und deutlich: #SozialKürzungenStoppen, sonst geht in der sozialen Arbeit das #LichtAus. Wir freuen uns über Mitstreiter*innen auf unserer Kundgebung.”

Quelle und mehr: https://awo.org/kampagnen/licht-aus. Siehe auch Offener Brief gegen die Sparpläne

Sachverständigenrat für Verbraucherfragen zu den “Folgen der Energiekrise”

Aus einer PM des Sachverständigenrat für Verbraucherfragen (SVRV) vom 9.10.2023: Der russische Angriff auf die Ukraine ging mit einem massiven Anstieg der Energiepreise in Europa einher. Die Bundesregierung hat darauf reagiert und zahlreiche Maßnahmen, wie etwa die Preisbremsen für Strom und Gas, auf den Weg gebracht, um die Kostenbelastung der Haushalte einzudämmen. Wie sich die finanzielle Situation der Haushalte in Deutschland entwickelt hat, lässt sich nun erstmals anhand von Mikrodaten für insgesamt 4.444 Haushalte beantworten. Erhoben wurden die Daten durch den SVRV und forsa. (…)

In der Folge hat die Energiekostenbelastung unter den einkommensschwächsten Haushalten besonders stark zugenommen. Der Anteil der Energiekosten am Haushaltseinkommen beträgt im ersten, d.h. ärmsten, Einkommensquintil nun 16%, im zweiten Quintil 11%. Im Vorjahr lagen diese Werte noch bei 12 bzw. 8%. Zum Vergleich: Das fünfte, d. h. das wohlhabendste, Quintil wendet gerade einmal 4% des Haushaltseinkommens für Energiekosten auf.

Eine gängige Faustregel besagt, dass Energiekosten zur finanziellen Überlastung eines Haushalts führen können, wenn diese mehr als 10% von dessen Nettoeinkommen betragen. Im März 2022 traf dies auf 26% aller befragten Haushalte zu. Im Juli 2023 waren 43% aller Haushalte betroffen, im ersten und zweiten Quintil waren gar 87% bzw. 58% der Haushalte überlastet. Nach einer konservativeren Berechnung, die nur Haushalte berücksichtigt, die weniger als 80% des Medianeinkommens zur Verfügung haben, ist immerhin noch ein Viertel der Haushalte energiearm. (…)”

Siehe auch den Policy Brief des SVRV zum Thema.

Gutachten zur Kindergrundsicherung: Wer bei den Kindern spart, zahlt später drauf

Aus einer PM der Diakonie: “Die Diakonie Deutschland hat zusammen mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschungam (DIW Berlin) eine Kurzexpertise erstellt, die das Ausmaß der Kinderarmut in Deutschland umfassend untersucht. Sie zeigt, dass die gesellschaftlichen Folgekosten von Kinderarmut vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung und sozialer Teilhabe viel stärker diskutiert werden müssen. (…)

“In der Diskussion über die Kindergrundsicherung dürfen nicht nur die kurzfristigen Sparzwänge im Bundeshaushalt eine Rolle spielen. Wir müssen auch über die mittel- und langfristigen Belastungen für Staat und Steuerzahler sprechen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn wir nicht frühzeitig in alle Kinder investieren“, sagte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie bei der Präsentation des Gutachtens. Denn gesunde und gut ausgebildete Kinder hätten deutlich bessere Chancen, sich ein selbstständiges Leben mit höheren Einkommen und einer geringen Abhängigkeit von staatlichen Hilfen aufzubauen. Lilie: „Frühzeitige Investitionen sichern soziale und ökonomische Chancen und ersparen dem Sozialstaat weitaus höhere Folgekosten.“ Die Diakonie fordert seit vielen Jahren im breiten Bündnis Kindergrundsicherung eine existenzsichernde Kindergrundsicherung. 

„Gefragt ist jetzt eine kluge Sozialpolitik mit ökonomischem Weitblick, die investiert und nicht nur die Folgeschäden von Armut ausbessert“, sagte Lilie: „Wer bei den Kindern spart, zahlt später drauf.“ 

Sozialhilfeausgaben im Jahr 2022

Aus der PM Nr. 321 des Statistischen Bundesamtes:

“Für alle anderen Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII waren im Jahr 2022 steigende Ausgaben zu verzeichnen.

Der größte Anteil an den Ausgaben für Sozialhilfeleistungen ging mit 59 % auf die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zurück: Auf diese Leistung, die vollständig aus Erstattungsmitteln des Bundes an die Länder finanziert wird, entfielen nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales 8,8 Milliarden Euro. Sie stiegen gegenüber dem Vorjahr ebenso wie die Ausgaben für die Hilfe zum Lebensunterhalt um 8,3 %.

Für die Hilfe zum Lebensunterhalt wurden insgesamt knapp 1,3 Milliarden Euro ausgegeben. In die Hilfen zur Gesundheit, die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten sowie die Hilfe in anderen Lebenslagen flossen zusammen rund 1,3 Milliarden Euro und damit 4,4 % mehr als im Vorjahr.”