LSG NRW: Jobcenter kann verpflichtet sein, eine Brillenreparatur zu zahlen

Helge Hildebrandt weist unter sozialberatung-kiel.de/2025/07/24/jobcenter-muss-brillenreparatur-bezahlen/ auf die Entscheidung Landessozialgericht NRW, Urteil vom 19.02.2025, L 12 AS 116/23 hin. Aus der Entscheidung:

„Anspruchsgrundlage ist § 24 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB II i.d.F. vom 26.07.2016. Danach sind nicht vom Regelbedarf nach § 20 SGB II umfasst Bedarfe für die Anschaffung und Reparaturen von orthopädischen Schuhen, Reparaturen von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen sowie die Miete von therapeutischen Geräten. Die Bedarfe werden nach § 24 Abs. 3 S. 2 SGB II gesondert erbracht. (…)

Die Klägerin hat an der Brille eine Reparatur vornehmen lassen. Die neuen Brillengläser der Klägerin weisen die gleichen Werte auf wie die durch den Sturz beschädigten Gläser. Sie wurden aufgrund eines Defekts und nicht wegen veränderter Sehstärke ausgetauscht. Bei der Abgrenzung von Reparatur und Neuanschaffung ist entgegen der Auffassung des Beklagten nicht darauf abzustellen, ob nur ein Glas oder beide Gläser beschädigt sind und deshalb ausgetauscht werden müssen (…)

Der Anspruch ist nicht deswegen ausgeschlossen, weil die Klägerin einen vorrangigen Anspruch gegen die Krankenversicherung gehabt hätte. (…) Der Anspruch war im konkreten Fall ausgeschlossen, weil die Klägerin den Beschaffungsweg nicht eingehalten hat. (…) Für den Fall, dass ein tatsächlich bestehender, medizinischer Bedarf der Klägerin von der Krankenkasse nicht gedeckt wird, ist der Beklagte für eine entsprechende Leistungsgewährung verantwortlich und damit Ausfallbürge der gesetzlichen Krankenversicherung. (…) Der Grundsicherungsträger ist verpflichtet, das medizinische Existenzminimum der Klägerin durch Übernahme der Kosten für die Reparatur der Brille für den Fall sicherzustellen, dass diese tatsächlich nicht von der Krankenversicherung übernommen werden. Dem steht der vermeintliche Vorrang der Krankenversicherungsleistungen nicht entgegen.“

Fachinfo des Paritätischen zur geltenden Gesetzeslage, zu praktischen Erfahrungen und zur aktuellen Debatte um Arbeitspflicht bzw. Jobpflicht

Hier der Hinweis auf die Seite www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/aktive-arbeitsmarktpolitik-arbeitsgelegenheiten-und-arbeitspflicht/

Aus der Einleitung: „Im politischen Raum erlebt gerade die Debatte um Arbeitspflicht eine Konjunktur, da CDU und FDP im Wahlkampf eine allgemeine Arbeitspflicht bzw. Jobpflicht für Bürgergeld-Beziehende und Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz fordern. Es sollen bspw. Arbeiten im öffentlichen Raum, auf Spielplätzen oder in Parks übernommen werden. Andernfalls soll es keine Sozialleistungen geben. Wie schon öfter in der Vergangenheit ist dies verbunden mit einer Stimmungsmache gegenüber Menschen, die auf Schutz und auf Sozialleistungen angewiesen sind. (…)“

Aus 4. Normative Bewertung der Forderung nach Arbeitspflicht: „Der Paritätische spricht sich aus inhaltlicher und normativer Überzeugung gegen eine Arbeitspflicht und für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus. (…)“

BSG: keine Aufrechnungsmöglichkeit wegen Beitragsforderungen gegen eine Verletztenrente, wenn Restschuldbefreiung erteilt worden ist

Hier der Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 03.12.2024, B 2 U 11/22 R. Die Entscheidung dürfte herausragende grundsätzliche Bedeutung haben (vgl. zur Aufrechnung etwa LSG NRW und anders LSG München).

Leider liegt die Entscheidung noch nicht im Wortlaut vor, aber Terminvorschau und vor allem der Terminsbericht sind sehr lesenswert. Daraus:

„Der Kläger war Anfang der neunzehnhundertneunziger Jahre Inhaber einer Baufirma, deren zuständiger Unfallversicherungsträger die Rechtsvorgängerin der Beklagten war. Für die Jahre 1992 und 1993 erhob diese Beiträge, die der Kläger nicht beglich. Der Kläger bezieht wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls seit 1999 von der Beklagten eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 von Hundert.

Das am 1. Dezember 2010 eröffnete Regelinsolvenzverfahren über das Privatvermögen des Klägers führte nur zu einer geringfügigen Befriedigung der Beitragsforderungen. Das Amtsgericht erteilte dem Kläger am 26. Januar 2017 die Restschuldbefreiung. Im Anschluss erklärte die Beklagte die Aufrechnung der nicht beglichenen Beitragsforderungen mit dem hälftigen – unpfändbaren – Anspruch auf Verletztenrente (Bescheid vom 4. April 2017, Widerspruchsbescheid vom 20. Dezember 2017). (…)

Der Beklagten steht nach Erteilung der Restschuldbefreiung keine Aufrechnungsbefugnis in Höhe des hälftigen Anspruches auf Verletztenrente gegen den Kläger zu. Die Voraussetzungen einer Aufrechnung lagen nach Erteilung der Restschuldbefreiung mangels Aufrechnungslage nicht mehr vor. Die Beitragsforderung der Beklagten ist mit Erteilung der Restschuldbefreiung zu einer unvollkommenen, rechtlich nicht durchsetzbaren Forderung geworden (§ 301 Absatz 1 InsO).

 Zu Bezahlkarten bei Geflüchteten

Im aktuellen Newsletter gibt Harald Thomé einige Link-Hinweise zum Thema der Bezahlkarten bei Geflüchteten. Zum Beispiel wird auf „Geflüchtete senden seltener Geld ins Ausland als andere Migrant*innen“ vom DIW hingewiesen.

Ergänzend dazu hier der Hinweis auf den Beitrag „Alles für eine Karte“ von FragDenStaat.

Der Teaser: „Bund und Länder führen eine Bezahlkarte für Asylsuchende ein – doch die Umsetzung sorgt für heftige Kritik. Interne Dokumente zeigen, dass bei der Ausarbeitung der Mindeststandards bewusst in eine Richtung gelenkt wurde, die gegen Grund- und Datenschutzrechte verstößt.“

Siehe https://fragdenstaat.de/artikel/exklusiv/2024/12/alles-fur-eine-karte-asylsuchende-bezahlkarte/

Praxistipp: zum 1.1.2025 ändert sich bezüglich der Rechtsbehelfsfristen die sog. „Zugangsfiktion“ von Bescheiden

Harald Thomé in seinem aktuellen Newsletter:

Diese „Zugangsfiktion“ regelt, wann ein Bescheid bei Bürger oder Bürgerin als „zugegangen“ gilt, und zwar in § 37 Abs. 2 S. 2 SGB X. Diese Regelung beträgt derweilen „drei Tage“ und wird ab Januar 2025 auf „vier Tage“ geändert. Die Änderung erfolgt im Rahmen des Postrechtsmodernisierungsgesetz [vgl. bundestagszusammenfasser.de und BGBl.], weil die Briefe eine längere Postlaufzeit haben. (…)

Hier eine Übersicht über die Änderungen in Buzer.

Ich habe dazu mal ein Infoblatt gemacht, aus dem sich die Fristen zum Einlegen von Widersprüchen ergeben, einmal mit Rechtslage bis 2024 und ab 2025.

Solch eine Fristenberechnung sollte ohnehin in jeder Beratungsstelle hängen.

Leistungsstreichungen für Dublin-Geflüchtete in Kraft, Leistungskürzungen für alle ab 2025

Claudius Voigt, GGUA Münster, am 2.11.2024 unter tacheles-sozialhilfe.de:

„Die Änderung des § 1 Abs. 4 AsylbLG als Teil des völlig zu Unrecht so genannten „Sicherheitspakets“ ist am 30.10.24 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden und damit heute in Kraft getreten. Was die staatlich produzierte Verelendung einer Menschengruppe auch nur im Entferntesten mit „Sicherheit“ zu tun haben soll, ist unerklärlich. Die Regelung in Kürze: [wird ausgeführt].

Die Bundesregierung hat beschlossen, den Regelsatz für Menschen im Grundleistungsbezug nach § 3 AsylbLG im Jahr 2025 zu kürzen. Im Gegensatz zu den Leistungen nach SGB II, SGB XII und den Analogleistungen nach § 2 AsylbLG sollen die Regelsätze nicht eingefroren bleiben, sondern um 13 bis 19 Euro sinken. Begründet wird dies vom sozialdemokratisch geführten BMAS formal damit, dass eine Bestandsschutzregelung für den Leistungsbezug nach § 3 AsylbLG nicht vorgesehen sei.

Hier sind die neuen Sätze im Bundesgesetzblatt. Die Kolleg*innen vom hessischen Flüchtlingsrat haben dankenswerterweise schon eine Übersicht über die alten und neuen Regelsätze gemacht: [Tabelle]“

Bundesverfassungsgericht zur BAföG-Grundpauschale: keine subjektiven Ansprüche auf staatliche Leistungen zur Beseitigung sozialer Ungleichheiten

Das Bundesverfassungsgericht hat gestern eine Entscheidung, 23. September 2024 – 1 BvL 9/21, veröffentlicht, die in Teilen erschreckend zu lesen ist. So soll es „kein Recht auf staatliche Leistungen zur Beseitigung von den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldeten Hindernissen für den Zugang zum Studium“ geben (Leitsatz 2).

Außerdem könne aus dem Sozialstaatsprinzip „bei der infolge der Begrenztheit der finanziellen Mittel notwendigen Priorisierung der vielfältigen Aufgaben (…) grundsätzlich keine subjektiven Ansprüche auf staatliche Leistungen zur Beseitigung sozialer Ungleichheiten hergeleitet werden.“ (Leitsatz 3a).

Es ging um die BAföG-Grundpauschalen für 10/2014 bis 2/2015 (vgl. Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsmäßigkeit des BAföG-Bedarfssatzes für Studierende und RA Schaller).

Aus der Presseerklärung des Gerichts:

„Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass mittellose Hochschulzugangsberechtigte sich nicht auf einen subjektiven verfassungsrechtlichen Anspruch auf staatliche Leistungen zur Ermöglichung eines Studiums berufen können, dem die Bemessung der Grundpauschale widersprechen könnte. Aus dem objektiv-rechtlichen sozialstaatlichen Auftrag zur Förderung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen folgt derzeit keine spezifisch auf die Hochschulausbildung bezogene Handlungspflicht des Staates.

Sozialrecht-Justament 7/2024: Die »wiederholte Antragstellung« nach § 28 SGB X und ihre Probleme in der Praxis

Hier der Hinweis auf die aktuelle Ausgabe des stets lesenswerten Sozialrecht Justament von Bernd Eckhardt.

Die Komplexität des Systems der sozialen Sicherung führt oftmals dazu, dass eine Sozialleistung beantragt wird, deren Voraussetzungen nicht erfüllt sind und gleichzeitig die zutreffende Sozialleistung nicht beantragt wird. Hier greift die wiederholte Antragstellung nach § 28 SGB X.

Dessen Absatz 2 beschreibt die häufigsten Anwendungsfälle, bei denen sich herausstellt, dass die Leistungsvoraussetzungen der vorrangigen Leistung nicht erfüllt sind.

Ein typisches Beispiel: Es wird Arbeitslosengeld nach dem SGB III beantragt, aber abgelehnt, weil die Anwartschaftszeit innerhalb der Rahmenfrist nicht erfüllt ist. Oder: Es wird Kinderzuschlag beantragt, der aber abgelehnt wird, weil die Hilfebedürftigkeit nicht überwunden wird

FR-Online: Inkasso-Stellen bedrängen Minderjährige

Hier der Hinweis auf den Beitrag der Frankfurter Rundschau mit dem Titel „Inkasso-Stellen bedrängen Minderjährige: Dringender Handlungsbedarf für die Ampel“ von Martin Staiger.

Es geht um die Beschränkung der Minderjährigenhaftung nach § 1629a BGB, die ja auch regelmäßig hier Thema ist (…/?s=1629a). Das gilt auch für das Jobcenter, vgl. auch § 40 Abs. 9 SGB II: § 1629a des Bürgerlichen Gesetzbuchs gilt mit der Maßgabe, dass sich die Haftung eines Kindes auf das Vermögen beschränkt, das bei Eintritt der Volljährigkeit den Betrag von 15 000 Euro übersteigt.“

Martin Staiger berichtet nun, dass das Jobcenter nicht mehr abwarten, bis die Kinder volljährig sind, sondern bereits minderjährigen Kindern den Gerichtsvollzieher ins Haus schickt. Wie weit das mit der Fachlichen Weisung dazu https://harald-thome.de/files/pdf/media/sgb-ii-hinweise/FW%2040%2C1%20%2041a%2C%206%20-%2001.01.2023.pdf in Einklang zu bringen ist? Unter 40.18 heißt es: „Bis zur Volljährigkeit erfolgt die Inanspruchnahme/Einziehung der Forderung jeweils an den gesetzlichen Vertreter. Erst wenn ein minderjähriges Kind volljährig wird, sind die Rückforderungen mittels Zahlungserinnerung gegenüber dem nun volljährig gewordenem Kind einzuziehen.

Siehe auch die Diskussion unter www.soziale-schuldnerberatung-hamburg.de/forum/viewtopic.php?t=169

Thomé zur BGH-Entscheidung zur Rückforderung überzahlter Miete

Letzte Woche hatten wir auf BGH zur Rückforderung überzahlter Miete, wenn der Mieter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bezieht, also Urteil vom 5. Juni 2024 – VIII ZR 150/23 hingewiesen.

Harald Thomé zu dieser BGH-Entscheidung in seinem Newsletter:

„Diese BGH-Entscheidung hat auch für vieles andere Konsequenzen. Z.B. wenn Jobcenter oder Sozialamt versehentlich die Miete auf das falsche Vermieterkonto überwiesen hat. Dann wird in der Realität oft gefordert, Betroffene sollten sich selbst drum kümmern und sich das falsch bezahlte Geld zurückzahlen lassen, leider könne derweilen die Miete für die aktuell bewohnte Wohnung nicht übernommen werden.

Diese Situation hat sich nun erledigt, denn wenn das Jobcenter selbstverschuldet an den falschen Vermieter zahlt, hat es trotzdem die Miete für die neue Wohnung zu zahlen und sich das Geld nunmehr selbst über den nach § 33  SGB II übergegangenen Anspruch zurückerstatten zu lassen.

Eine weitere klassische Fallsituation ist: JC zahlt trotz bekannter Trennung den Lebensunterhalt an den oder die vorherige BG-vorstehende und – empfangsberechtigte Person (nach § 38 SGB II). Auch hier wird in der Realität verlangt, dass Betroffene sich das Geld vom falschen Empfänger zurückholen sollten. Auch hier ist die BGH-Entscheidung klarstellend: Die antragstellende Person hat einen eigenen zu erfüllenden Anspruch. Rückforderungen wegen Überzahlungen gehen nach § 33 Abs. 1 SGB II auf das Amt über.“