EuGH: Ein Unionsbürger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Aufnahmemitgliedstaat begründet hat, kann nicht deshalb während der ersten drei Monate seines Aufenthalts vom Bezug von Kindergeld ausgeschlossen werden, weil er keine Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat bezieht

Aus der PM des EuGH zu Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-411/20 vom 1.8.2022: “Mit seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass jeder Unionsbürger, auch wenn er wirtschaftlich nicht aktiv ist, das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten hat, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht, solange er und seine Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. In diesem Fall ist ihr Aufenthalt grundsätzlich rechtmäßig. Während dieser Zeit genießen die Unionsbürger vorbehaltlich vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen die gleiche Behandlung wie Inländer. (…)

Das in Rede stehende Kindergeld stellt aber keine Sozialhilfeleistung im Sinne dieser Ausnahmebestimmung dar. Es wird nämlich unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit seines Empfängers gewährt und dient nicht der Sicherstellung seines Lebensunterhalts, sondern dem Ausgleich von Familienlasten.”

BSG zur Mietschuldenübernahme nach § 22 Abs. 8 SGB II und Selbsthilfe des Betroffenen (anderweitig beschafftes Darlehen)

An dieser Stelle der Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 22.7.2022, B 7/14 AS 52/21 R. Diese liegt im Wortlaut noch nicht vor, daher aus dem Terminsbericht:

“Die Übernahme von Schulden bei Dritten setzt voraus, dass zum Zeitpunkt der Aufnahme des Darlehens Mietschulden vom Jobcenter zu übernehmen gewesen wären. Gemäß § 22 Abs 8 Satz 1 SGB II steht die Übernahme der Schulden im Ermessen des Grundsicherungsträgers. Dieses Ermessen ist nach Satz 2 eingeschränkt, wenn die Übernahme der Schulden gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht.

Der Übernahme der Schulden steht grundsätzlich nicht entgegen, wenn ein Leistungsberechtigter nach der Anzeige seines Bedarfs gegenüber dem Jobcenter mit Hilfe eines anderweitig beschafften Darlehens die Unterkunft durch Begleichung der Mietschulden an den Vermieter gesichert hat. Auch Schulden gegenüber Dritten, die Leistungsberechtigte nach dieser “Bedarfsanzeige“ beim Jobcenter eingegangen sind, (mehr …)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde betreffend Restschuldbefreiung wegen Nichtberücksichtigung einer offensichtlich einschlägigen Übergangsvorschrift

Hier der Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2022, 2 BvR 1154/21.

Rz. 27: Das Landgericht hat mit Art. 103h EGInsO eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt und entgegen dem eindeutigen Wortlaut von § 290 Abs. 1 InsO a.F. eine schriftliche Antragstellung der Gläubiger auf Versagung der Restschuldbefreiung zugelassen, ohne dafür eine nachvollziehbare Begründung zu geben. (mehr …)

BAG zur (Un-)Pfändbarkeit einer Corona-Sonderzahlung

PM des Bundesarbeitsgerichts: “Zahlt ein Arbeitgeber, der nicht dem Pflegebereich angehört, freiwillig an seine Beschäftigten eine Corona-Prämie, ist diese Leistung als Erschwerniszulage nach § 850a Nr. 3 ZPO unpfändbar, wenn ihr Zweck in der Kompensation einer tatsächlichen Erschwernis bei der Arbeitsleistung liegt, soweit die Prämie den Rahmen des Üblichen nicht übersteigt. (mehr …)

AG Norderstedt zum P-Konto: dauerhafte Festsetzung eines abweichenden pfändungsfreien Betrages ohne vorherige Lohnpfändung möglich

Hier der Hinweis auf AG Norderstedt, Beschluss vom 11.10.2021 – 68 M 2057/18 – amtliche Leitsätze:

  1. Erfolgen nach Kontopfändung ständig in der Höhe schwankende Lohnzahlungen auf
    das Pfändungsschutzkonto, ohne dass auch bei dem Arbeitgeber eine Lohnpfändung ausgebracht wurde, muss nicht für jeden Monat eine individuelle Pfändungsfreigabe beantragt werden.
  2. Stattdessen kommt in Betracht, einen auf Dauer angelegten pfändungsfreien Betrag
    zu bestimmen, der sich an den höheren oder auch höchsten Lohnzahlungen an den
    Schuldner orientiert.

Der Beschluss erging noch zur alten Rechtslage nach § 850k Abs. 4 ZPO aF, dürfte aber auf den § 906 ZPO übertragbar sein.

BSG: Trinkgeld mindert den Arbeitslosengeld-II-Anspruch grundsätzlich nur, wenn es 10% des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt

Das Bundessozialgericht meldet: “Trinkgeld kann sich bei der Berechnung des Alg II auf die Leistungshöhe grundsätzlich nur dann mindernd auswirken, wenn es 10% des Regelbedarfs übersteigt. Dies hat der 7. Senat des Bundessozialgerichts am 13. Juli 2022 entschieden (B 7/14 AS 75/20 R) [Terminsbericht].

Die als Servicekraft in der Gastronomie tätige Klägerin erhielt neben Erwerbseinkommen aus dieser Tätigkeit Trinkgeld in Höhe von 25 Euro monatlich. Anders als vom beklagten Jobcenter und dem LSG angenommen, handelt es sich bei diesem Trinkgeld nicht um Erwerbseinkommen. Das Trinkgeld ist vielmehr eine Zuwendung, die Dritte erbringen, ohne dass hierfür eine rechtliche oder sittliche Verpflichtung besteht. Hieraus folgt, dass es erst dann als Einkommen bei der Berechnung der Leistung zu berücksichtigen ist, wenn es die Lage der Leistungsberechtigten so günstig beeinflusst, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wäre. Dies war vorliegend nicht der Fall.”

vzbv: Anbieter täuschte günstiges Darlehen zur Finanzsanierung vor

“Das Landgericht Traunstein hat der milanda UG untersagt, Verbraucher:innen mit irreführenden Anschreiben die kostenpflichtige Vermittlung einer privaten Schuldenberatung anzubieten. Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) hatte dem Unternehmen vorgeworfen, Verbraucher:innen eine „Finanzsanierung“ anzubieten, ohne dass eine solche beantragt wurde. Darüber hinaus monierte der vzbv, dass Verbraucher:innen die Vermittlung eines günstigen Umschuldungsdarlehens vorgetäuscht wurde.”

Mehr auf der Meldung des vzbv. Dort gibt es auch das Urteil des LG Traunstein vom 04.05.2022, Az. 7 O 3505/21 – rechtskräftig.

BGH zum Erstattungsanspruch eines Fluggastes bei insolventem Luftfahrtunternehmen

BGH, Urteil vom 5. Mai 2022 – IX ZR 140/21 zur Fluggastrechte-VO Art. 5 Abs. 1 lit. a, Art. 8 Abs. 1 lit. a – Leitsatz:

Wird ein Flug nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Luftfahrtunternehmens annulliert, stellt der Erstattungsanspruch eines Fluggastes, der den Flug vor der Eröffnung gebucht und vollständig bezahlt hatte, grundsätzlich eine Insolvenzforderung dar.

SG Köln zu den Passbeschaffungskosten für einen zugewanderten Menschen nach § 21 Abs. 6 SGB II

Aus der Entscheidung des SG Köln vom 17. Mai 2022 – S 15 AS 4356/19 – hier als Scan:

“Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers ist § 21 Abs. 6 SGB II. Danach wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht; bei einmaligen Bedarfen ist weitere Voraussetzung, dass ein Darlehen nach § 24 Abs. 1 ausnahmsweise nicht zumutbar oder wegen der Art des Bedarfs nicht möglich ist. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.

Bei den Aufwendungen für die Ausweispapiere handelt es sich mit Blick auf die Gültigkeitsdauer um einmalige Aufwendungen (vgl. BS, Urteil vom 29.05.2019 – B 8 SO 8/17 R). (mehr …)

OLG Karlsruhe zum Ausschluss der Vollstreckung der Einziehung: Entreicherungseinwand in Altfällen bleibt möglich

Der § 459g Abs. 5 StPO wurde bekanntlich mit Wirkung zum 1.7.2021 geändert, nämlich der Fall der Entreicherung (“soweit der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist”) gestrichen (Synopse). Das ist sehr problematisch – siehe Stellungnahme der BAG-SB.

Zumindest für die Altfälle weist nun das OLG Karlsruhe, 25.05.2022 – 1 Ws 122/22, einen Lösungsweg. Aus der Entscheidung:

“II.2 Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben und anzuordnen, dass die weitere Vollstreckung des mit Urteil des Landgerichts S. vom 18.06.2021 angeordneten Verfalls von Wertersatz i.H.v. 265.300 € unterbleibt, weil die Strafvollstreckungskammer ihrer Entscheidung nicht das für diesen Fall gem. § 2 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 StGB anzuwendende mildeste Gesetz (§ 459g StPO a.F.) zugrunde gelegt hat (mehr …)